Vignoni Alto
Es sind nur zweieinhalb Kilometer, die man am besten zu Fuß in Angriff nimmt, ganz entspannt und ohne Eile, und statt in Bademantel und Schwimmkappe in einen Mantel aus absoluter Freiheit gehüllt. Vom Hotel aus geht man erst die Straße hinab, die zur Via Cassia führt, biegt nach ein paar hundert Metern links ab (dem Wegweiser folgend) und macht sich an den Aufstieg auf der Schotterstraße. Die Landschaft, die sich peu à peu auftut, ist schlicht atemberaubend, doch die wahre Überraschung wartet oben in Vignoni Alto. Es erwartet uns der Burgfried der alten Befestigung aus dem 11. Jahrhundert. Und das kleine, fein gepflegte Örtchen mit seinen Natursteinhäuschen und gepflasterten Gassen – ein Wunder! Um nicht erst von der Kirche San Biagio zu sprechen, die romanische Ursprünge hat (auch wenn das Innere ziemlich modernisiert wurde) und in deren einschiffige. Form zu stiller, dankbarer Kontemplation einlädt. In ihrem Inneren erklingen gregorianische Chöre in Endlosschleife aus dem Lautsprecher – eine Einladung zur Meditation, der sich auch die überzeugtesten Atheisten nicht entziehen werden. erlässt man die Kirche, sollte man sich einen Blick in die Landschaft gönnen – da liegt das ganze Val d’Orcia mit seiner Unendlichkeit im Sinne des Dichters Giacomo Leopardi. Ja, unser Italien ist ganz schön schizophren: Wir leben von Geschrei, Trotzhandlungen, unerhörten Dreistigkeiten, Verschandelungen, Zusammenbrüchen und Zerstörungen und verlieren dabei die Lebensessenz, die unser Dasein doch verbessern könnte. Wenn Sie sich in diesem Leben also noch einen Rest Sensibilität bewahren konnten, dann wandern Sie wandern, um Neues zu entdecken, um Momente reinster, rarer Schönheit zu genießen. Überhaupt: Wenn Sie schon hier in Bagno Vignoni sind, dann sicher nicht ohne Grund, oder?
Ps. San Biagio (der Heilige Blasius) war Arzt und Bischof von Sebaste in Kleinarmenien (heute Türkei). Sein Martyrium fand währen der Christenverfolgungen im Jahr 316 statt, die sich während der Auseinandersetzungen zwischen den Kaisern Konstantin (Okzident) und Licinius (Orient) abspielten. Er wurde von den Römern gefangengenommen, geschlagen und mit einem Eisenkamm, wie er zum Kämmen von Wolle benutzt werden, gefoltert. Nachdem er sich geweigert hatte, vom christlichen Glauben abzufallen, wurde er schließlich enthauptet. San Biagio wird im Westen wie im Osten, in der Katholischen und in der Orthodoxen Kirche, gleichermaßen verehrt. Ja, Mauern können dünn sein, und wir alle stammen letztendlich von Migranten ab. Amen.